Leseprobe: Die Grammatik der Druckversion folgt bedauerlicherweise den Regeln der sogenannten Rechtschreibreform. Ich hoffe, das Textverständnis wird dadurch nicht allzu sehr beeinträchtigt.
Beers? Lakai hieß Jaap Waard und wohnte rund dreißig Kilometer
nördlich in einer Stadt, zu der der größte Fischereihafen
der Niederlande gehörte. Ich war gespannt, ob auch
ich dort meinen Fisch an Land ziehen würde.
Nachdem ich es erfreulich glatt bis zum Autobahnanschluss
geschafft hatte, dauerte es nur noch fünfundzwanzig
Minuten, bis ich den Wagen vor meinem Ziel ausrollen lassen
konnte.
Ich hatte überlegt, ob ich für meinen Besuch eine Knarre
mitnehmen sollte. Die Schusswaffe, über die ich verfügte,
war eine Walther PPK im Kaliber 7.65. Die kennen Sie
sicher aus den James-Bond-Filmen, sodass mir eine nähere
Beschreibung entbehrlich erscheint. Doch die Waffe lag in
Selm.
Es hätte nicht allzu viel Zeit gekostet, eben in Egmond
vorbeizuschauen und den Revolver zu holen, den mir der
Mann unfreiwillig dagelassen hatte, den ich jetzt besuchen
wollte. Ich bin ein deutscher Frührentner aus einem winzigen
Fischerdorf und nicht Wild Bill Hickock aus Tombstone.
Daher ist es für mich nicht selbstverständlich, tagsüber
mit zwei Revolvern am Gürtel herumzulaufen und
nachts mit einem Derringer unter dem Kopfkissen zu schlafen.
Was ich vorhatte, sollte eine lockere Plauderei über alte
Zeiten werden, die nur aus dem gestrigen Abend bestanden.
Klar, dass ich auf niemanden gut zu sprechen war, der
mich umlegen wollte. Andererseits war mein Rachedurst
nicht so groß, dass ich wie die Kavallerie über ihn hereinbrechen
wollte. Mir würde es genügen, wenn er ein paar
Informationen über seinen Chef herausrückte. Dafür
würde ich den Vorfall vom Parkplatz auf sich beruhen lassen.
Ich baute darauf, dass ich ihn durch Zureden zur
Vernunft bringen konnte. Dafür stünden die Sterne aber
schlecht, wenn ich ihn dabei in den Lauf seiner eigenen
Kanone gucken ließ. Also hatte ich auf den Umweg verzichtet.
Das etwa zehnstöckige Haus lag am Rand des Industriegeländes,
wo Wohnbebauung in Hafenanlagen überging. Es
war die steingewordene Idee von Hässlicher Wohnen, einer
dieser anheimelnden Menschensilos, in denen man den Tod
eines Nachbarn nur dann bemerkt, wenn der Dauerauftrag
nach Monaten das Konto geleert hat und keine Mietzahlungen
mehr eingehen.
Ich arbeitete mich auf einer Art Wendeltreppe um den
defekten Aufzug herum in den fünften Stock hoch und war
froh, an einem zerschlagenen Flurfenster richtig durchatmen
zu können. Ein paar Minuten streckte ich den Kopf ins Freie
und genoss die Brise, die vom Meer herüberwehte. Dann
hatte ich den Mief aus gekochtem Fisch, verspritztem Heizöl
und Babywindeln halbwegs aus der Nase und fühlte mich in
der Lage, seine Wohnungstür ausfindig zu machen.
Die Bude lag am Ende eines langen, vor dem Krieg gegen
die Spanier vielleicht einmal grün gestrichenen Korridors.
Ein Pappschild mit seinem per Kugelschreiber draufgekritzelten
Namen war mit durchsichtigem Tesafilm überklebt
und so auf der wackeligen Tür befestigt worden. Das Holz
um das Schließblech herum schien erst kürzlich notdürftig
geflickt worden zu sein. Möglich, dass eine Bande gleichermaßen
intelligenter wie geschickter Jungeinbrecher hinter
dieser Palastpforte den Schatz des Ali Baba vermutet hatte.
Wahrscheinlicher erschien mir allerdings, dass der Hausherr
selbst seine Schulter als Türöffner benutzt hatte, nachdem im
Anschluss an seine Zechtouren einmal mehr der Schlüssel
verschwunden geblieben war. Dort, wo ein Klingelknopf
hingehörte, ragten aus einem Loch in der Wand zwei Drähte
heraus.
Ich gab mir den Anstrich eines halbwegs zivilisierten Menschen
und klopfte. Nichts rührte sich, weder hinter der Tür
noch auf dem Gang. Nachdem ich meine Bemühungen dreimal
und immer lauter wiederholt hatte, lag der Schluss nahe,
dass er nicht zu Hause war. Eventuell hatte er sich auf den
Weg zum Sozialamt gemacht, um die öffentliche Hand zu
schütteln.
Als ich schon fast wieder die Treppe erreicht hatte, hörte
ich, wie in meinem Rücken leise eine Tür geöffnet wurde.
Der schlacksige Junge, der um die Ecke linste, war vielleicht
elf, zwölf Jahre alt. Da ich mir nicht zutraute, den Jargon der
Saison zu treffen, den MTV seiner kindlichen Klientel verpasst
hatte, versuchte ich es ganz förmlich, als hätte ich einen
Erwachsenen vor mir.
»Guten Tag! Ich würde gerne Herrn Waard sprechen.
Kannst du mir sagen, ob der jetzt zur Arbeit ist und wann ich
den wohl am ehesten erreichen kann?«
»Herr? Arbeit? - Ach du Teufel! Sie wollen zum blonden
Affen dahinten, und Sie meinen, der geht arbeiten?« Er
konnte ein abgeklärtes Grinsen nicht zurückhalten, das auf
seinem Gesicht frühestens in dreißig Jahren hätte auftauchen
dürfen. »Der geht genauso oft arbeiten wie mein Vater, als
der noch bei uns gelebt hat.«
Der blonde Affe. Kein schlechter Titel, kam mir irgendwie
bekannt vor. Ich ging zu ihm rüber, langsam, um ihn nicht
zu verschrecken. »Hast du eine Ahnung, wann er wohl wiederkommt,
der blonde Affe?«
Nur ein knappes Kopfschütteln. »Der kommt und geht,
wie er will. Hat keinen Job außer Saufen, obwohl er immer
damit angibt, dass er für so einen feinen Furz arbeitet.
Kleiner alter Pinkel in so ?nem Bestattungskostüm, Sie wissen
schon. Den gibt?s tatsächlich, hab ihn einmal hier gesehen.
Der war ...«
»Bestattungskostüm?«
»Na, so ?n Anzug eben in Dunkel, mit Schlips und so. Wenn
er blau und am Protzen ist, dann erzählt er überall rum, dass
er für den als Konnsersch arbeitet oder so ähnlich. Von dem
kriegt er immer Geld zum Saufen, ich kapier nicht, wofür.«
»Hm, du meinst wohl Concierge, das heißt Hausmeister.
Ja, das hab ich auch schon gehört. » Wie auch immer, ich
muss ihn sprechen. Wirklich keine Ahnung, wo ich ihn auftreiben
kann?«
Wieder dieses knappe Kopfschütteln.
Dann hatte ich plötzlich eine andere Idee. »Ich würd gerne
mal einen Blick in seine Wohnung werfen. Meinst du, das
lässt sich einrichten?«
Ich hatte meine Stimme auf Verschwörertonfall gesenkt
und ihn dabei so verstohlen angesehen, wie er es von mir
erwarten durfte. Mike Hammer auf vollen Touren.
»Mir egal ... wenn Sie unbedingt kotzen wollen. Ich war
einmal drin in der Bude, ach du Scheiße!«
»Okay, ich versuch?s. Wär nur zu blöd, wenn der Affe
dann grad nach Hause käme. - Äh, wie heißt du eigentlich?
Mein Name ist Wachtendonk.« Schöne, kleine Stadt an der
deutsch-holländischen Grenze. Nicht nur Engländer sind erfinderisch.
Er schlug in meine ausgestreckte Hand ein. »Ich heiße ...
alle sagen Ben zu mir.«
Also Benjamin. Kein angemessener Name, wenn man vorhat,
mal zwei Meter groß zu werden. »Okay, Ben, wir machen
ein Geschäft.«
Ich hätte ihm einen ganzen Zehn-Gulden-Schein geben
können. Aber bei einem Burschen, der für Mike Hammer
schwärmt, hielt ich einen halben Fünfundzwanziger für
angemessener. So was ist stilvoll in unseren Kreisen.
Er starrte begeistert auf den durchgerissenen Schein. Seine
Kumpel würden vor Neid tot umfallen, wenn er ihnen mit
der Story kam. »Ich brauch ?nen Partner, der die Gegend im
Auge behält und mir ein Zeichen gibt, wenn der Affe auftaucht.
Aber rechtzeitig. Traust du dir das zu?«
Die Bewegung war wieder knapp, aber diesmal ein
Nicken. Zur Unterstreichung bezog er sofort Posten an der
Treppe. Eine bessere Rückversicherung würde ich mir hier
und jetzt nicht kaufen können. Also konnte ich genauso gut
anfangen.
Ich versuchte es noch einmal mit Klopfen und lehnte mich
dann mit meiner Breitseite gegen die morsche Tür, wobei ich
den Druck beständig verstärkte. Ein Knirschen, ein Knacken,
dann ein gedämpftes Kracks und ich stand im Korridor. Ich
lehnte die Tür wieder an und machte mich ans Werk.
Nach rechts ging das Badezimmer ab. Ein Klotopf mit
Druckspüler, eine Duschtasse, in der ein heruntergerissener
Brausekopf lag. Ein braunfleckiges Waschbecken, ein gesprungener
Spiegel ohne Ablage davor, kein Wandschrank.
Dieser Albtraum eines Villeroy&Boch-Vertreters hielt kein
Geheimnis für mich parat. Das Schlafzimmer links war dagegen
ein Wunschtraum in Askese. Ein Säulenheiliger führte
ein bequemeres Leben. In der Mitte lag eine stinkige Matratze
unbestimmbarer Farbe mit einer in ihrem Siff harmonisch
darauf abgestimmten Decke. An den Wänden selbst
gebastelte Regale voller ziemlich teurer Spirituosen.
Der Knalleffekt erwartete mich im kombinierten Koch-
Wohnraum. Frau Holle hatte eine Party gegeben. Jeder
Quadratzentimeter im Raum war mit Federn bedeckt. Der
Täter hatte zu viele Filme gesehen und geglaubt, dass ein
Kopfkissen den Abschuss dämpfen würde. Das tut es auch
normalerweise. Nur hätte er dann nicht eine Flinte mit 12er-
Schrot nehmen dürfen. Sein Glück war, dass es in diesem
Bau niemanden störte, wenn der Nachbar mit einer Panzerfaust
übt.
Ich ließ jeden Gedanken an eine weitere Examinierung der
Bude sausen und konzentrierte mich auf den Hausherren,
der in einem Sessel der Tür direkt gegenübersaß. Die Wand
hinter ihm war mit Blutspritzern, Knochensplittern, Gehirnmasse
und Einschusslöchern übersät. Wie er so dasaß, machte
er auf mich einen ziemlich kopflosen Eindruck. Ganz wie
Ludwig XVI. bei seiner umjubelten Schlussvorstellung,
nachdem das letzte Messer gefallen war. Beers hatte aus dem
Intermezzo auf dem Parkplatz gelernt und war diesmal mit
seinem Schießprügel nahe genug herangegangen, um einen
lästigen Mitwisser einer radikalen Schönheitsoperation zu
unterziehen.
Leider bin ich nicht so abgebrüht, wie ich gerne erscheinen
möchte. Ich brauchte ein paar Minuten, um mich wieder ins
Lot zu bringen. Wenn ich in der Zwischenzeit etwas getan
hatte, dann war das von mir nicht registriert worden. Scheiße,
was hatte ich alles in die Finger genommen?
Ich hatte in der Wohnung auch vorher einiges angefasst
und versuchte zu rekapitulieren, was es war. Ich schmeichle
mir gerne, indem ich annehme, über ein ausgesprochen gutes
Erinnerungsvermögen zu verfügen, aber allzu viel Vertrauen
in die eigene Speicherkapazität hat schon manchen
dazu gebracht, sein Gedächtnis in einer überbelegten
Gemeinschaftszelle voller Notschwuler zu trainieren. Jahrelang.
Deshalb ging ich kein Risiko ein und versuchte erst gar
nicht, die Einrichtung mit Papiertuch und Wunderreiniger
blank zu scheuern. Das würde ich denen überlassen, die sich
mit meinem Werk nicht anfreunden könnten. Die von Beers
kreierte Frostlandschaft hatte mich inspiriert.
Ich ging zurück auf den Flur und schnappte mir den Minimax,
der im Treppenschacht hing, entfernte den Sicherungsdraht,
entriegelte den Schlauch und haute oben auf den
Auslöseknopf. Es dauerte drei Strophen Leise rieselt der
Schnee, dann war jeder Quadratzentimeter der Bude zu
einem Winterparadies geworden, um das mich jeder Dekorateur
beneidet hätte. Wer den Schmier wegputzen wollte,
würde mehr Fingerabdrücke abschrubben, als ich in einem
Jahr hinterlassen konnte. Den Feuerlöscher wischte ich ab
und schmiss ihn ins Schlafzimmer. Mit dieser Bude und
ihrem Besitzer war ich fertig.
Ben erhielt die andere Hälfte des Scheins mit dem Auftrag,
eine Stunde nach meinem Abmarsch die Polizei anonym auf
seinen Nachbarn hinzuweisen. Ich baute das als Notbremse
ein. Sie würden die Todeszeit bestimmen und mich damit als
Täter ausschließen, falls sie je nach dem Herrn Wachtendonk
suchen sollten, der heute Nachmittag in der Wohnung des
Verblichenen gewesen war.
Außerdem tat ich damit dem Vermieter einen Riesengefallen.
Die Leiche würde abgeräumt, bevor aus der Wohnung
eine Madenzucht werden könnte.
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