Leseprobe: Die Grammatik der Druckversion folgt bedauerlicherweise den Regeln der sogenannten Rechtschreibreform. Ich hoffe, das Textverständnis wird dadurch nicht allzu sehr beeinträchtigt.
Ich war froh, als wir uns endlich zu unserem Platz durchgekämpft
hatten. Beste und sogar kostenlose Aussicht für die
darob heftigst beneideten Gäste des Fiscaladvocaten. Keine
zwanzig Schritte vor uns erhob sich das Schafott, auf dem im
Kohlebecken die Glut schon entfacht war. Richter, Ankläger
und Ratsherren fehlten dort ebenso wenig wie der unvermeidliche
Priester, die sich alle ihrer Funktion wohl bewusst
waren und deshalb eine angemessen bedeutungsvolle Miene
zur Schau trugen.
Zu unseren Füßen wogte die Menge hin und her, durch die
sich eine schmale, von Wachen mit ihren quergehaltenen
Spießen mühevoll freigesperrte Bahn zog. Nach einer Weile
wurden die Wellen aus Haaren, Hüten und Kappen ruhiger,
die sich vereinzelt an den Kindern brachen, die auf den
Schultern ihrer Väter saßen, und verebbten schließlich vollends,
als aus der Stadt die Arme-Sünder-Glocke herübertönte.
Mit ihrem Klang erlosch auch jeglicher Lärm, der sich
zuvor wie eine erstickende Decke über den Platz gelegt und
jede Unterhaltung mit einer Person, die mehr als drei Schritte
entfernt war, unmöglich gemacht hatte.
Es wurde so still, dass man die Pferde heranschnaufen
hören konnte, die den Todgeweihten auf einer Kuhhaut zu
seiner letzten Vorstellung schleiften. Scharmann, genau wie
gestern nur mit seinem Lendenschurz bekleidet und weiterhin
mit den Schellen gefesselt, sah noch jämmerlicher aus als
bei unserer ersten Begegnung. Diesem Wesen haftete nichts
Dämonisches an, das hier war nur ein Haufen Fleisch und
Knochen, in dem bald kein Leben mehr wohnen würde. Der
Weg vom Kerker bis hierher über Stock und Stein, durch
nichts gemildert als das dünne Leder, war für sich schon eine
kaum erträgliche Tortur. Angesichts der zuvor auf der Folter
erlittenen Verletzungen und Wunden, die durch diese
Behandlung wieder aufgebrochen waren, grenzte es an ein
Wunder, dass er noch bei Bewusstsein war.
Unter dem rhythmischen Schlag von Trommeln ergriffen
zwei Schergen den armen Teufel und trugen ihn mehr die
Treppe hinauf, als dass sie ihn bei seinen eigenen Bemühungen
unterstützten. Sobald sie ihn oben auf der Plattform losließen,
sank er wieder in seine Kauerstellung zurück, die ich
schon aus dem Verlies kannte.
Nach ihm stieg der Henker mit seinen drei Gehilfen empor,
die alle ihr Gesicht mit sackartigen Kapuzen verhüllt hatten.
Als hätten sie mit ihrem Opfer nichts zu schaffen, schritten
sie an ihm vorbei und postierten sich neben dem Pfahl, an
dem der erste Akt des Schauspiels stattfinden sollte.
Die Trommeln verstummten, und es trat eine solche Stille
ein, dass man in ihr die redensartliche Nadel hätte zu Boden
fallen hören. Nun erhob sich der Richter und verlas mit einigem
Räuspern das Urteil, welches nach ausführlicher Schilderung
der begangenen Verbrechen die Reihenfolge der
Strafen angab, mit denen der Missetäter vom Leben zum
Tode torquiert werden sollte.
Danach bot man dem Todeskandidaten die Möglichkeit,
mit sich, seiner Schuld und dem Himmel ins Reine zu
kommen, indem er vor aller Welt in einer ergreifenden
Rede sein verpfuschtes Leben ausbreitete und sich selbst
als ewige Mahnung zur Läuterung und erzieherischen
Einwirkung darböte. Ich hatte in solchen Situationen
wiederholt erlebt, dass die Verurteilten förmlich von einer
Todessehnsucht mitgerissen wurden und ihre Rolle tatsächlich
genossen, erfuhren sie doch zum ersten Mal in
ihrem Leben eine Aufmerksamkeit, die ihnen ansonsten
beständig versagt geblieben war. Manche vergaßen darüber
wahrhaftig für einige Minuten, dass dies auch das letzte
Mal war.
In Scharmanns Verhalten änderte sich jedoch nichts. Aufgrund
der Fesselung unfähig, mehr als nur kleinste Bewegungen
zu vollführen, verharrte er in seiner verkrümmten
Position und gab nur brabbelnde Laute von sich, die außerhalb
der Plattform nicht mehr zu hören waren. Auch das
Hinzutreten des Priesters, der ihn im Glauben bestärken und
ihm eine letzte Beichte abnehmen wollte, nötigte ihm keine
andere Reaktion ab.
Als der Pfaffe mit seinem Sermon fertig war, scheuchte ihn
der Richter mit einem kurzen Wink beiseite. Dieses Zeichen
war gleichzeitig die Aufforderung an die Henker, ihres
Amtes zu walten.
Die Knechte zogen den Delinquenten aus seiner Hockstellung
empor vor den Pfahl, an dem sie ihn dadurch fixierten,
dass sie zwei in der entsprechenden Höhe angebrachte
eiserne Reifen um seinen Hals und seinen Leib legten, ohne
ihn von seinen sonstigen Fesseln zu befreien.
Die Luft über der Menge vor mir, aus der vereinzeltes
Stöhnen und manchmal sogar ein hysterisches Gelächter zu
hören waren, schien sich zu einer durchsichtigen Gallerte zu
verdichten, die man beinahe mit einem Messer hätte schneiden
können. Die Masse wogte wieder wie zuvor hin und
her, weil ein jeder danach trachtete, seine Sicht zu verbessern,
und sie wirkte dabei so hitzig wie ein angetrunkener
Galan, der sich im nächsten Moment auf seinen Nebenbuhler
stürzen will, der ihm die Gunst der Dorfhure streitig
macht.
Nun endlich trat der Henker vor und ergriff, nachdem
Totenstille eingekehrt war und er sich der ungeteilten Aufmerksamkeit
des Volkes sicher sein konnte, eine an den
Backen weißglühende, etwa armlange Zange. Diese grub er
in den Brustmuskel des Verurteilten, um nach sekundenlangem
Warten, in dem sich der Geruch verbrannten Fleisches
mit den Ausdünstungen der Menge mischte, ein Stück aus
dem Körper zu reißen.
Es war dieser besondere, mit nichts anderem zu vergleichende
Geruch, der mich seit dem 22. Januar des Jahres 1536
nicht mehr loslassen sollte. Ich schloss wie im Zwang die
Augen vor der grässlichen Szene vor mir, bloß, um damit
eine noch weit schlimmere wieder vor mir erstehen zu lassen,
in der das Gemetzel an den Anführern der Wiedertäufer in
meiner allernächsten Nähe stattgefunden hatte. Nur mit
größtmöglicher Selbstbeherrschung gelang es mir, meinen
Magen unter Kontrolle zu halten. Dankbarkeit hin, Dank-
barkeit her, ich verfluchte mich für meine Bereitschaft, dem
Grafen von Crange behilflich sein zu wollen.
Mit einer weiteren Anstrengung zwang ich mich, die Augen
wieder zu öffnen.
In den vergangenen Sekunden war außer dem Zischen des
Fleisches kein Laut zu hören gewesen. Weitere Momente vergingen,
bis sich etwas von dem Gepeinigten vernehmen ließ,
der zur Verblüffung aller zunächst stumm zu bleiben schien.
Es war ein hoher, singender Ton, der immer tiefer wurde,
dabei anschwoll und schließlich in einem jaulenden Knurren
gipfelte, als befände sich kein Mensch, sondern ein Wolf von
der Größe eines Bären auf der Plattform.
Dieses wiederholte sich, sooft der Henker mit seinen versengenden
Klauen auf sein Opfer zustieß und Stück für Stück
verkohlendes Fleisch aus dem zuckenden Körper riss.
Gernot bemerkte meine Reaktion, ohne jedoch etwas dazu
zu sagen. Er reichte mir einen Becher herüber, den ich zur
Hälfte auf einen Zug in mich hineinstürzte, wobei mir die
Stärke des Branntweins vollends gleichgültig war. Dann
nahm mich das Geschehen gegen meinen Willen wieder gefangen.
Ich hatte den Eindruck, dass Scharmann, dessen Augen aus
ihren Höhlen zu treten schienen und der sich fast verrenkte,
um an seinen Schurz zu kommen, kaum bis zum zweiten Teil
des tödlichen Spektakels durchhalten würde. Doch nicht ein
einziges Mal wurde er bei der Tortur auch nur ohnmächtig
noch kam sein Herzschlag zum Stillstand.
Als Brust, Bauch, Arme und Beine nur noch eine blutigschwarze
Unförmigkeit bildeten, gab der Richter das Zeichen,
zum letzten Akt überzugehen. Hierzu mussten dem
Delinquenten alle Fesseln gelöst werden, da es ansonsten
nicht möglich war, ihn auf das Rad zu binden.
Nachdem Hals- und Leibreif abgenommen worden waren,
sackte Scharmann am Fuße des Pfahls zusammen, was dem
Priester eine willkommene Gelegenheit bot, sich erneut ins
Spiel zu bringen und um das Seelenheil des Todeskandidaten
zu lamentieren. Während das Volk sein Augenmerk verstärkt
auf die Henker richteten, die zwei mit Leder bezogene
Holzkeulen bereitlegten und an verschiedenen Stellen des
Rades Stricke befestigten, blieb mein Blick auf Scharmann
haften, dem es nun endlich gelang, von allen anderen unbemerkt
etwas aus seinem Lendenschurz zu holen und, als er
seine gefalteten Hände wie zum Beten in die Höhe hob, in
den Mund zu stecken.
Nachdem sich der Pfaffe glücklich am Ziel wähnte, den
Mörder in eine bußfertige Seele verwandelt zu haben, trat er
beiseite und ließ der weltlichen Gerichtsbarkeit ihren Lauf.
Die Knechte packten Scharmann und schleppten ihn zu dem
großen Rad hinüber, auf dem sie ihn in einer Weise festbanden,
dass Unterarme und -schenkel über den Rand hinausragten.
Ich hatte den Eindruck, dass der Delinquent bei dieser
Prozedur mit seinen Augen die Tribüne absuchte, als sich
im selben Moment unsere Blicke trafen. Mich solcherart fixierend,
versuchte er sich aufzurichten, soweit es seine Fesseln
zuließen. Seine Worte drangen so klar herüber, als säße er
neben mir.
»Ich war frisches Blut.«
Dann ließ er sich zurücksinken und presste seine Kiefer
mahlend aufeinander. Als der Henker, von seiner Wichtigkeit
überzeugt und sich der ungeteilten Aufmerksamkeit der
Menge gewiss, mit gemessenem Schritt neben das Rad trat,
waren Scharmanns Augen blicklos zum Himmel gerichtet.
Hieran änderte sich nichts, als der erste Hieb mit der schweren
Keule das rechte Schienbein zersplitterte.
Kein Stöhnen, kein Keuchen, kein Wolfsgeheul kam aus
Scharmanns Kehle.
Mit jedem Schrei, der ausblieb, wurde die Menge unruhiger.
Es brauchte eine Weile und mehrere Schläge auf die knirschenden
Knochen, bis der sich um sein Vergnügen betrogen
wähnende Pöbel begriff, dass der arme Sünder längst tot
war.
»Vielleicht ist er nur ohnmächtig geworden.« Gernot war
aufgesprungen, seine Miene verriet seine Verblüffung.
Ich schüttelte den Kopf, weil ich es besser wusste. »Die
Sache ist vorbei. Lass uns gehen!« Scharmann hatte mir mit
seinen letzten Worten den Dank für das Gift abgestattet, dass
ich ihm überlassen hatte. Leider blieb mir ihr Sinn ein komplettes
Rätsel.
Mehr war für uns hier in Dorsten nicht zu erfahren.
Als wir uns von unseren Plätzen erhoben, versuchte ich,
zum Abschied zum Fiskaladvocaten hinüberzuwinken, doch
dessen Aufmerksamkeit war gänzlich von den Vorgängen
auf dem Schafott gefangen genommen. Also verließen wir
grußlos die Tribüne und zwängten uns durch die Köpfe
reckende und Hälse verdrehende Meute, die immer noch
nicht begreifen wollte, dass es mit ihrem Vergnügen ein Ende
hatte.
Da die Straßen wie leergefegt waren, brachten wir den Weg
zur Schenke in kürzester Zeit hinter uns, warfen die Packtaschen
auf die Pferde und ritten gen Crange. Nach einem
kurzen Galopp, der uns die nötige Distanz zu den Übrigen
verschaffen sollte, die nach uns diese Richtung einschlagen
würden, ließen wir die Tiere in den Trab fallen und hatten
nun Muße, das Gesehene zu verarbeiten.
»Nun, ist er davongeflogen oder hat er sich unsichtbar gemacht?
Oder ist er genau so gestorben wie jeder andere arme
Teufel in seiner Lage? – Ich schätze, der Herr von Crange
wird sich damit zufrieden geben müssen.«
Gernot konnte trotz allem seine Zweifel nicht verbergen.
»Sicher, er ist gestorben wie ein normaler Mensch. Aber es
heißt ja auch nicht, dass Werwölfe unsterblich sind. Vielleicht
war er durch die Folter einfach zu geschwächt, um seinen
ganzen Zauber wirken lassen zu können. Immerhin sah es
für mich so aus, als hätte er den Zeitpunkt seines Todes letzten
Endes doch selber bestimmt. Wie hat er das gemacht,
wenn er über keine übernatürlichen Kräfte verfügt?«
Angesichts dieser Folgerung konnte ich mir ein breites
Grinsen nicht verkneifen. »Habe ich dich endlich überzeugt,
wenn ich dir diesen letzten Punkt erkläre? – Dann höre mir
zu, ohne zu staunen.«
Ich erläuterte ihm die Sache mit dem Gift, das ich Scharmann
gegeben hatte, und dass der arme Tropf keine Chance
hatte, es zu nehmen, solange er noch die Schellen trug.
Letztlich bekehrt schien er jedoch erst, als ich ihm meinen
Besuch im Kerker in aller Breite schilderte, insbesondere aber
den Zustand, in dem Scharmann sich dort befand, und was
er bereits alles hatte erleiden müssen, um in diese körperliche
Verfassung versetzt zu werden.
»Also war er kein Werwolf. – Doch warum hat er dann die
drei Menschen gefressen? Ich habe in meinem Leben selber
oft Hunger gehabt, wenn dieser Zustand, Gott sei Dank, auch
schon lange zurückliegt. Aber Menschenfleisch essen ... pfui
Teufel! Mir dreht sich der Magen um, wenn ich nur daran
denke.«
»Ich habe auch noch kein Menschenfleisch gegessen und
hoffe ebenfalls, dass es so bleiben wird. Indessen, ich habe
von gelehrten Herren sowie von einem weit gereisten
Handelsfahrer aus Terneuzen gehört, dass es auf der anderen
Seite der Welt sehr wohl ganze Völker geben soll, bei denen
ein getöteter Feind als die köstlichste aller Speisen gilt und
das Verzehren von menschlichen Artgenossen durchaus an
der Tagesordnung ist. Nun, wie auch immer, über Geschmack
lässt sich nicht streiten. Und noch weniger über
Tatsachen, welche nämlich in diesem Fall beweisen, dass
Scharmann eindeutig mehrere Menschen getötet und Teile
von ihnen gegessen hat. Klammern wir also diese zumindest
in unseren Bereichen ungewöhnliche Tischsitte aus, bleibt die
Erkenntnis, dass nichts Tierisches oder gar Teuflisches im
Spiel war. Was wiederum bedeutet, dass die Leute des Trecks
nicht von einem übernatürlichen Wesen getötet worden sind.
Dies allein ist die Botschaft, die ich dem Grafen von Crange
zu überbringen habe.«
Damit blieb allerdings die beunruhigende Situation bestehen,
dass ich dem Grund des Verschwindens kein bisschen
näher gekommen war.
Und noch etwas anderes beunruhigte mich. Während der
ganzen Zeit auf der Lippewiese hatte ich das Gefühl gehabt,
von jemandem beobachtet worden zu sein. Dies allein war
sicher nicht schlimm. Was mich daran verunsicherte, war
der Umstand, dass ich diesen Späher nicht hatte entdecken
können.
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