Brauneberger Seelenfrieden
oder
Schütt die Morde in ein Gläschen Wein, ...

(eine kleine, gemeine Geschichte rund um den Rebensaft)

"Das ist ja wirklich ein erlesenes Tröpfchen, vollmundig, rund. Das ist ..." er schnüffelte am Glas, ließ den Schluck durch den Mund rollen, und gab die Geräusche von sich, die nach seiner Auffassung von einem Weinkenner in dieser Situation erwartet wurden "... als wenn einem ein Engelchen - na, Du weißt schon, mein Bester."

Ich ergänzte in Gedanken "auf die Seele pinkelt - Du Prolo!"

Von solchen Kalibern wie Georg Maierfeld, pardon, Herrn-Direktor-Maierfeld-aber-Du-kannst-ruhig-Schorsch-zu-mir-sagen, wurde ich um diese Jahreszeit regelmäßig heimgesucht. Immer dann, wenn die aktuellen Jahrgänge in Flaschen gefüllt wurden. Maierfeld war in Personalunion Generaldirektorpräsident und Aufsichtsratsvorsitzender der größten europäischen Firma für Zweikomponentenkleber, und suchte schon frühzeitig den Wein aus, den er en gros für seine Geschäftsfreunde als Weihnachtspräsent benötigte. Er war außerdem Mitte fünfzig, übergewichtig, und in allererster Linie ein komplettes Arschloch.

Zum Glück war er kein Gedankenleser. Schließlich lebe ich von solchen Typen.

Er war vor drei Tagen angekommen und machte heute zum ersten Mal einen entspannten Eindruck. Gleich am ersten Abend hatte er mir einen davon vorlamentiert, daß die Haftex, ein Konkurrenzunternehmen, dabei war, ihm das Wasser abzugraben. Angeblich hätten sie eine umweltschonendere Art der Herstellung gefunden, wenn sie auch bisher an seinen Dumping-Endverbraucherpreis nicht ranreichen konnten. Immerhin war das für seine Lobbyisten in der Landesregierung ein willkommener Aufhänger, ihn mal wieder um die Erhöhung ihrer Schmiergelder anzugehen. "Mieses, geldgeiles Pack!" hatte er geflucht, doch nur halbherzig in seiner Wut, weil wohl wissend, daß er sie letztlich auf der Schwarzgeldschiene doch wieder überrollen würde.

Das endgültige Heilmittel zur Wiederherstellung seiner Zufriedenheit war, wie so oft, mein Wein aus bester Juffer-Lage, dem wir uns seit heute Mittag widmeten. Wenn sonst wirklich nichts mehr half, schaffte es mit tödlicher Sicherheit mein Brauneberger Seelenfrieden, die innere Ausgeglichenheit und charakterliche Souveränität der gestreßten Klientel zu restaurieren, die ich haßte, aber deren Geld ich brauchte, und die zum Glück die Minderheit meiner Gäste darstellte.

Ich bin nämlich nicht nur Winzer, dabei in dieser Eigenschaft höchst angesehen und von meinen Kollegen in vielerlei Gremien hineinkomplimentiert. Ich bin obendrein - leider, wie ich in Situationen wie dieser manchmal hinzufügen muß - auch Gastronom, der nebenher eine 8-Zimmer-Pension betreibt, die, wie alle in unserer Gegend, auf das Motto "Wein, Weib und Gesang" gegründet ist. Persönlich kann ich auf den Gesang gut verzichten, auf den Wein selbstverständlich nicht, und auf Weib nur höchst ungern.

Da ich, wie gesagt, in unserem Dörfchen nicht ganz unbekannt bin, werden Sie mir hoffentlich verzeihen, daß ich mich Ihnen nicht vorgestellt habe. Das werde ich aus naheliegenden Gründen auch nicht tun. Nennen Sie mich deshalb der Einfachheit halber nur Willi.

"Das Zeug ist ein wahres Wundermittel." Das Zeug war ein Riesling aus bester Lage, und wenn ich blutenden Herzens mitansehen mußte, wie sich so ein Banausenknilch wie Direktor Schorsch den Wein hineinkübelte, kam ich mir vor wie ein vom Schicksal Geschlagener, der dazu verdammt war, seine Perlen samt Austern sackweise an die Säue zu verfüttern. Aber war ich nicht genau das? Hatte nicht das Schicksal ...

"Tatsächlich, ein wahres Wundermittel. Das ist noch besser als Baldrian, ..." Mir wurde gleich zweimal schlecht. Erstens bei dem Gedanken an Baldrian, zweitens, weil es Menschen gab, die diese beiden Flüssigkeiten in einem Atemzug nennen konnten. "...um mich wieder ins Lot zu bringen. Ein paar Gläschen, und schon fühl ich mich wie auf Wolke 7."

Jetzt war es wieder so weit. Mit dem Burschen ging wieder die jovial-schwelgerische Art durch, die sich immer dann bei ihm einstellte, wenn er seinen Pegel erreicht hatte. "Jaja, dieses Zeug verschafft mir immer meinen Seelenfrieden, wenn sonst nichts mehr hilft. - Willi, Du Teufelsbraten, da hast Du übrigens einen prima Namen ausgesucht. - Wenn ich mir das so recht überlege, hast Du mir noch nie verraten, wie Du da drauf gekommen bist. Komm, laß gehen, wie kommt man auf sowas?" Dabei knuffte der Mann mit dem begrenzten Sprachschatz mich verschwörerisch-intim mit seiner fetten Faust in die Rippen, eine Geste, die ich so liebe wie eine herausgefallene Zahnfüllung am Sonntagmorgen.

Da sollte mich wirklich der Teufel holen und in der Hölle braten, wenn ich ihm dazu die Wahrheit sagte.

"Ach, sowas kommt meistens einfach aus einer Laune heraus. Andererseits ..." ich würde den Kotzbrocken schon in die falsche Richtung bugsieren "... haben manche Namen einen konkreten Hintergrund. Nicht unbedingt historisch verbrieft, aber irgend eine Geschichte steckt schon dahinter. Zeller Schwarze Katz zum Beispiel, oder noch besser Kröver Nachtarsch. Das ist richtig interessant. Angeblich hat der Kellermeister einem vorwitzigen Lehrjungen den nackten Arsch versohlt, so, wie man die Szene auf dem Etikett sieht. In der Realität ist der Ursprung aber ein ganz anderer. Da sind die Weinbauern nämlich zur Lese ohne Hose in den Berg gezogen. Und das hatte folgenden Grund: ..."

Geschafft. Solche Superschlauen von eigenen Gnaden wie mein anbiedermeierischer Schorsch waren am leichtesten zu manipulieren. Dem Kerl würde ich meine Geschichte noch nicht einmal dann erzählen, wenn er mich zu seinem Alleinerben einsetzte. Obwohl, irgend wem würde ich sie schon gerne offenbaren. Ich weiß auch nicht, warum das so ist. Warum der Trieb, ein Geheimnis herauszuposaunen, irgendwann einmal so übermächtig wird. Geht das jedem Täter so, wenn er sein Geheimnis nur lange genug mit sich herumgeschleppt hat?

Egal, warum es so ist - es ist so. Den Blödmann hier würde ich sogar noch belügen, wenn er mich nur nach der Uhrzeit fragte, aber zu Ihnen habe ich komischerweise Vertrauen. Weiß der Henker, warum. Und nach zehn Jahren, da treibt es einem einfach den Mund auf. Also, wenn Sie die Geschichte hören wollen? Und wenn ich mir so mein Direktorchen angucke, ist Kröver Nacktarsch wirklich keine schlechte Überleitung.

***

"Heute war es zu viel, Old Boy, viel zu viel. Heute hast Du einen Tritt in den Arsch verdient. Und ein paar in die Schnauze."

Der erste Gedanke, der mich durchzuckte, war: Ach du Scheiße, die dusselige Kuh hatte ihm alles gebeichtet! Ist es denn möglich, daß selbst kluge Frauen in gewissen Lebenslagen so reagieren, als gäbe es nur ein momentanes Blödgefühl und sonst nichts auf dieser Welt, als wären sie ohne Gehirn geboren worden, als hätten sie nicht einen Funken der Bauernschläue ihrer apfelschwingenden Urmutter abgekriegt?

Doch verwarf ich diese absurden Ideen gleich in der nächsten Sekunde. Natürlich hatte Betty den Mund gehalten. Der Kerl hatte uns einfach bloß beobachtet und war uns gefolgt.

Die Grables kamen schon seit den frühen neunziger Jahren zu uns. Er, Arnie, war früher auf der Airbase in Spangdahlem stationiert gewesen und rangierte damals bereits relativ hoch in der Militärhierarchie, sie, Betty, um einiges jünger als ihr Mann, doch frisch verliebt und noch frischer verheiratet. Nach einigen wenigen Jahren war nicht viel vom alten Glanz geblieben. Mit Arnie ging es beruflich nicht weiter, und Betty, der dralle Pferdeschwanztyp, vertrieb sich das langweilige Kaserneneinerlei in einem Wittlicher Sportstudio, wo sie sich, jetzt kurzhaarig und drahtig, vom Körperkultvirus hatte infizieren lassen.

Als ihm dann eine interne Regel aus Altersgründen das Fliegen verboten und er schon vorher aus den selben Gründen das Na-Sie-wissen-schon drangegeben hatte, waren sie zurück in die USA gegangen. Aber weil sie nun mal ihre besten Jahre in Deutschland verbracht hatten, war es nur zu verständlich, daß für ihn und seine Frau ein anderer Anlaß gefunden werden mußte, immer wieder in unsere schöne Gegend zurückzukehren. Für ihn war es der Wein, und der Anlaß für seine Frau war ich.

Mir hatte sie schon damals als langhaariges Countrygirl gefallen, wenn sie bei uns kurz anhielten, um auf dem Rückweg in die Kaserne eine Kiste Wein mitzunehmen. Und später, als Aerobicjunkie ohne Babyspeck, gefiel sie mir noch besser. Früher blieben sie nur auf ein paar Minuten, jetzt mieteten sie immer für mindestens eine Woche.

Arnie nutzte die Zeit, um aller Welt und in erster Linie sich selber zu beweisen, daß ein ausgemusterter Soldat nicht zwingend ein Kulturvakuum in seinem ehemaligen Helmständer haben mußte, und klapperte daher eine historische Stätte in der Umgebung nach der anderen ab. Betty machte anfangs noch gute Miene zum langweiligen Spiel, aber als Arnie plötzlich seine erwachte Intellektualität auf die Spitze trieb und Dorfmuseen frequentierte, um sich in staubigen Archiven über Hexenverfolgungen und Bauernkriege in Good-old-Germany kundig zu machen, war bei ihr der letzte Zahn gezogen. Passenderweise schützte sie deshalb zunächst Zahnschmerzen und später den üblichen Weiberkram mit Migräne und allem, was so dazu gehört, vor, um zu Hause, sprich in meiner Pension, bleiben zu können.

An dieser Stelle noch weiter drumrum zu reden, wäre eine Beleidigung Ihrer Intelligenz. Es kam, wie es kommen mußte, und für das Französische Bett meines Freundes Vinzenz fingen harte Zeiten an. Denn weil bei mir die Zimmer, unabhängig von der Jahreszeit, fast immer ausgebucht sind, ging ich natürlich kein Risiko ein und traf mich mit Betty täglich zum nachmittäglichen Matratzentest fünf Häuser weiter bei meinem besten Freund in unserer alten Fetenbude, die er in nostalgischer Wehmut kaum verändert und also gut abgeschottet hielt.

Alles hätte bis zum Ende der Zeit bzw. von Bettys Attraktivität so weiterlaufen können, hätte sich Arnie für seinen Urlaub einen soliden deutschen Wagen und nicht in seinem völlig unangebrachten Nationalstolz einen elenden Amischlitten gemietet. So aber brach eines schönen Tages beim Durchfahren eines Schlaglochs auf unserer vom Lastwagenverkehr schwer gebeutelten Dorfstraße nicht nur der vordere rechte Querlenker, sondern auch die deutsch-amerikanische Freundschaft. Denn als Arnie unfallbedingt zu einer total unpassenden Zeit wieder bei der Pension erschien, sah er gerade noch seine Frau mit mir in Vinzenz Haus verschwinden. Ich hatte Arnie nie viel Phantasie zugetraut, doch er mußte wohl genug Seifenopern im heimatlichen TV gesehen haben, um zu realisieren, was dies zu bedeuten hatte.

In seiner feinfühligen Cowboymentalität machte er sich erst gar nicht die Mühe, vor der Tür auf uns zu warten, sondern stürmte mit dem bereits zitierten Ausruf in unseren Hobbyraum wie die Kavallerie in die Tipis der Sioux. Getragen von einer Woge aus Wut und Vernichtungsdrang übersah er dabei in seiner Scheuklappenperspektive Tuapapa, der ihm den Weg zum Bett verstellte, ihn stolpern und in hohem Bogen auf die Terracottafliesen krachen ließ.

Tuapapa war wirklich ein schräger Typ. Sein Körper war lang und dünn und so verbogen, daß der Bursche mit seinem Hungerödem in der Leibesmitte glatt als Fotomodell für Brot für die Welt hätte durchgehen können. Auch sonst hatte sich der Schnitzer keine besondere Mühe gegeben, sieht man von der Ausgestaltung des Schädels ab. Der war echt beeindruckend. Phantastisch herausgearbeitete Zähne, durch die eine spitze Zunge stach. Glupschaugen eines Basedowkranken, die jeden Betrachter zu fixieren schienen, egal, in welcher Ecke des Raumes er sich befand. Und mörderische Hörner, die fast waagerecht an die fünf Zentimeter aus seiner Stirn herausragten und aus einem undefinierbaren, elfenbeinernen, unzerstörbaren Material zu sein schienen.

Vinzenz hatte dieses fast einen Meter hohe Teufelssymbol der Osimosi-Inseln mitgebracht, als er vor Jahren in seiner Flower-Power-Zeit in den entlegensten Winkeln der Welt herumhippiete und von überall her den absonderlichsten Krimskrams mit in unser rückständig-urdeutsches Dorf schleppte, in dem ein Joint von seiner kriminellen Gewichtung her gleich hinter einem Attentat auf den Kaiser rangierte. Paradoxerweise war ausgerechnet diese Hausbackenheit unserer Gegend der Grund dafür, daß Vinzenz immer über eine wohlgefüllte Reisekasse verfügen konnte; denn seine gesamte Verwandtschaft war heilfroh, ihn in seiner Sturm-und-Drang-Zeit auf Distanz halten zu können. Jedenfalls hatte Vinzenz, wenn er alle Monate wieder hier auftauchte und von uns Ortsgebundenen gebührend bestaunt wurde, immer irgend welche Kuriositäten dabei, die dann in unserem Fetenzimmer neben den bereits angesammelten Kugelfischen, Seeigeln, Kaftanen, Wasserpfeifen und einem ausgestopften Krokodil landeten. Tuapapa, der so wunderbar als Halterung für Jeans, Blusen und was sonst noch so entfernt werden mußte, dienen konnte, fand seinen Platz direkt am Bett.

Nun mag man einwenden, daß es einer erotischen Atmosphäre - ich weiß zwar bis heute noch nicht, was Na-Sie-wissen-schon mit Erotik zu tun hat, aber bitte - nicht unbedingt zuträglich ist, wenn man in den entscheidenden Momenten einem wahrhaftigen Teufel ins Gesicht schaut, aber immerhin kommen seit Jahr und Tag über 90 % aller Verheirateten mit dieser Allnachtssituation ganz gut zurecht. Und wenn man wie ich und die anderen Jungs auf dieser alten Lagerstatt die ersten und gelegentlich sogar erfolgreichen Gehversuche unternommen hat und dabei immer von dieser abturnenden Schnitzerei beglotzt worden ist, dann registriert man irgendwann so einen überseeischen Holzknüppel nicht mehr und fiedelt fröhlich drauflos. Klar, daß Betty ebenfalls am Anfang mit Tuapapa ihre Schwierigkeiten gehabt hat, aber nach relativ kurzer Zeit gewann auch bei ihr die Fleischeslust die Oberhand. Mit anderen Worten, Augen zu und durch.

Jedoch dies alles sollte nun ein Ende haben, denn der undankbare Arnie war dabei, sich nach einer viel zu kurz geratenen Schrecksekunde wieder aufzurappeln und seinen Vernichtungsfeldzug gegen seinen zuvorkommenden Gastwirt, der ihn im Grunde nur entlasten und von unliebsamen Pflichten befreien wollte, mit aller Härte fortzusetzen. Wobei es allen Anschein hatte, daß auch das untreue Weib seinen Teil abkriegen sollte. Deshalb zog sich die entsetzte Betty instinktiv die Decke über ihren und ich Tuapapa über Arnies Kopf, beides mit kräftigem Schwung. Ich halte es für müßig zu betonen, daß bei dieser Aktion Bettys Kopf erheblich weniger Schaden nahm als der von Arnie, in dessen Schädelkanne sich Tuapapas Hörner tief eingegraben hatten.

Vinzenz, aufmerksam geworden durch das plötzliche Verstummen des rhythmisch quietschenden Bettes, aufgeschreckt durch die Schreierei und angelockt durch das Gepolter, stand wie angenagelt in der Tür. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf eine Szenerie, die sein Fassungsvermögen überforderte, und brabbelte in einer Tour: "Mein Gott, mein Gott, mein Gott!", obwohl es doch genau dieses Wesen war, das mit dem Geschehenen am allerwenigsten zu tun hatte. Den Teufel Tuapapa schien er dagegen gar nicht zu bemerken. Wohl aber das Blut, das immer noch aus der klaffenden Schädelverletzung gepumpt wurde und sich ausbreitete, als hätte jemand eine 3-Liter-Flasche Dornfelder fallen gelassen. Von diesem Bild schien Vinzenz , der den Blick nicht abwenden konnte, zunächst fasziniert, dann jedoch schlagartig ermüdet, denn er schloß überraschend die Augen und knallte hinterrücks mit einem solch trockenen Knacks auf den Boden, daß ich schon glaubte, der Teufel von den Osimosi-Inseln hätte ein weiteres Opfer gefordert.

Parallel dazu fing Betty, die ein Auge über ihre Decke hinweg riskiert hatte, in einer mir bis dato unbekannten Tonlage derartig laut zu kreischen an, daß ich kurzfristig mit dem Gedanken spielte, Tuapapa zu bitten, hinsichtlich der Familie Grable eine Generalbereinigung vorzunehmen. Den Gedanken verwarf ich allerdings gleich wieder. Immerhin hatte mir Betty noch vor Minuten den Rest von verflossenen schönen Stunden beschert. Also beließ ich den hornverbohrten Teufel in seiner Lage und meine schalldämpfende Maßnahme bei einer Ohrfeige, die augenblicklich eine dem Ernst der Situation angemessene Friedhofsstille einkehren ließ. Das einzige Geräusch, das in den nächsten Minuten zu hören war, bestand im Quietschquatschen meiner Schuhe, wenn ich im verzweifelten Ringen um eine probate Lösung, ohne es zu realisieren, den sich beständig ausweitenden Dornfelder See durchwatete.

Zum Glück schlug Vinzenz seine Augen bald darauf wieder auf. Und das war gut so, weil ich seine Hilfe dringend beim Verwischen der Spuren brauchte. Ganz im Gegensatz zu ihm hielt nämlich Arnie seine Augen für immer geschlossen und stellte uns damit vor nicht geringe Probleme. Seinen Wagen hatte er noch selber in die Werkstatt geschafft, so daß wir uns um den nicht zu kümmern brauchten. Aber wohin mit der Leiche?

Als könnte sie Gedanken lesen, ging Bettys Blick in Richtung ihres dunkelrot eingefaßten Ehemanns, und Augen und Mund öffneten sich synchron bis an die Grenze des biologisch Machbaren. Bevor es erneut zu einem Soundcheck aus Little Richard und den Mond anheulendem Wolfsrudel kommen konnte, scheuerte ich ihr wieder eine mit der altbekannten Wirkung. Nachdem ich anschließend gut eine Viertelstunde auf sie eingeredet hatte, war in ihr die Erkenntnis so weit gesackt, in Windeseile ihre Sachen zu packen und Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen. - Ich habe übrigens von ihr nie wieder etwas gehört.

Ich will Sie hier nicht mit Details langweilen, wie Vinzenz und ich das Blut samt meinen durchsafteten Schuhen und Strümpfen beseitigten und alles taten, um es so aussehen zu lassen, als wäre das Ehepaar Grable Hals über Kopf wieder in die Staaten geflogen. Das ist die übliche Mörderroutine und kann in jeder zweiten Kriminalstory nachgelesen werden. Bemerkenswerter ist da schon, daß wir in der folgenden Nacht, wenn in unserem verschlafenen Dörfchen nur die Katzen unterwegs sind, angetan mit unseren Winzerkitteln wie späte Arbeiter, Arnie auf dem Hang neben, jedoch in gebührendem Abstand von meinem Haus unter einen Berg von ausgemachten Rebstöcken packten, die sowieso verbrannt werden sollten. Die Diskussion, ob ihm Tuapapa als einzige Grabbeigabe dorthin folgen sollte, war emotionsgeladen, aber kurz. Klar, daß wir uns über die Jahre an den nützlichen Teufel gewöhnt hatten, doch siegte die Vernunft, die eindeutig für die Spurenbeseitigung plädierte. Also lautete das Urteil über den mörderischen Tuapapa auf Tod durch den Scheiterhaufen, das am nächsten Nachmittag auch vollstreckt wurde. Vinzenz hatte es sich nicht nehmen lassen, auch seine alten Rebstöcke herüberzuschaffen und so für ein wahres Fegefeuer zu sorgen.

Der Abend war längst angebrochen, als die Asche erkaltet war und wir, die einzigen Menschen weit und breit, beim Herumstochern nur Tuapapas Hörner und neben ein paar Knochenresten von Arnie dessen verkohlten Schädel fanden. Während sich Vinzenz auf den Weg machte, um die im Feuer geläuterten Hörner als Andenken bei sich zu verstecken, hockte ich mich in den Schutz einer Mauer aus Feldsteinen, die Knochenreste in den Kitteltaschen, den Schädel in der Hand und die wirrsten Ideen im Kopf, unschlüssig, was ich mit dem Ding anfangen sollte. Als völlig skurrile Gedanken mein Hirn durchwanderten und ich dazu den Schädel im Takt wie einen Ball hüpfen ließ, kam es bei "Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage. Obs edler Riesling oder Müller-Thurgau leichter machen, des Schicksals ..." zu meiner unverzeihlichen Nachlässigkeit, die mir mein Spielzeug aus den Händen gleiten und den Hang hinabkullern ließ. Zunächst langsam, dann in größeren Schwüngen, und schließlich in einem grandiosen Schlußsprung mitten auf die Straße und unter den Zwillingsreifen eines Speditionslastwagens. In dem Glauben, eine Katze überfahren zu haben, machte der Fahrer eine Vollbremsung und kam gleichzeitig mit mir am Unfallort an, wo sich nur einige kleine, grauweiße Splitter auf dem Asphalt finden ließen. Ich konnte den Mann vollends beruhigen, indem ich ihm erklärte, daß mir nur eine zwar kunsthandwerklich getöpferte, aber lediglich mit ideellem Wert ausgestattete Vase aus der Hand gerollt sei, und ließ den tierlieben Menschen erleichtert seine Fahrt fortsetzen.

Noch erleichterter war allerdings ich, weil das corpus delicti nun unversehens durch eine Fügung des Schicksals oder meinetwegen auch ein allerletztes Einschreiten Tuapapas seiner verräterischen Form beraubt und auf ein handliches Maß reduziert worden war. Damit hätte die Angelegenheit insgesamt erledigt sein können, hätte ich mich nicht durch die Tatsache, unverhofft von so vielen Augenpaaren angestarrt zu werden, zu einer gänzlich irrationalen Handlung hinreißen lassen. Ich glaube nicht an das redensartlich schlechte Gewissen und solchen Unsinn, doch als ich mich von mindestens einem Dutzend Nachbarn beobachtet fühlte, die vom Bremsenquietschen und dem quergestellten Laster hervorgelockt worden waren, hatte ich keinen sehnlicheren Wunsch, als mich so schnell wie möglich des belastenden Inhalts meiner Kitteltaschen zu entledigen. Mit einer Geschwindigkeit, die gerade noch als unverdächtig durchging, verschwand ich daher in meiner Pension und dort im Weinkeller, wo ich in der hintersten Ecke die prall gefüllten Taschen durch das Spundloch in ein altes Weinfaß entleerte, in dem sich eine Weinsorte befand, die bei mir intern die Bezeichnung "Salatsauce" trug. Zwar ursprünglich aus einer Spitzenlage stammend, war das Zeug durch einen Fehler beim Keltern so sauer geworden, daß ich mir schon ernsthaft überlegt hatte, mich überhaupt nicht mit einer Vermarktungsstrategie zu befassen und die Suppe einfach durch den Ausguß laufen zu lassen. Doch jetzt erschien es mir als Rettung in höchster Not.

Am anderen Morgen hätte ich mich für meine Blödheit verfluchen können angesichts dieses Kuckuckseis, das ich mir selber ins Nest gelegt hatte. Es wäre so simpel und gleichzeitig so schlau gewesen, die Knochenreste auf dem Juffer oder bei einem Waldspaziergang zu verstreuen. Aber nein, ich Trottel mußte mich von Situation und Stimmung überrumpeln lassen und wie ein Idiot handeln. Jetzt hatte ich die Knochen im riesigen Faß und kriegte sie nicht mehr raus, selbst wenn ich alles ablaufen ließe. Ich war wirklich ein kompletter Esel, aber damit mußte ich nun leben.

Da wir schon mal beim Esel sind - der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Ich bin da keine Ausnahme. Deshalb verdrängte ich nach einer gewissen Zeit die Erinnerungen an das unselige Eingreifen Tuapapas nicht nur, ich ertappte mich sogar dabei, daß ich an dem besagten Faß vorbeigehen konnte, ohne einen Gedanken an die Vergangenheit zu verlieren. Nach einigen Jahren kam es so weit, daß ich, abgelenkt durch das drohende Damoklesschwert einer kurzfristig angesetzten Steuerprüfung, ohne nachzudenken mein Glas unter ein Faß hielt, um mir einen Beruhigungsschluck zu gönnen.

Und wie der Teufel es wollte - es war eben dieses besagte Faß.

Ich merkte es nicht nach dem ersten, auch nicht nach dem zweiten, erst recht nicht nach dem dritten Glas. Ganz im Gegenteil. Eine wohltuende Leichtigkeit durchfloß meinen Körper, ausgehend von einem vollmundig-abgerundeten Geschmack, der meinen Gaumen streichelte und meinen Magen mit einer besänftigenden Wärme auskleidete, die mir jeden erbsenzählerischen Finanzinspektor als einen Freund erscheinen ließ. Was ich da getrunken hatte, drang erst in mein Bewußtsein, als ich bereits in meinem Bett lag und mich in freudiger Erwartung zukünftiger Ereignisse, die nur positiv sein konnten, wohlig ausstreckte. Und nicht einmal diese Erkenntnis vermochte es, meinen so gewonnenen Seelenfrieden zu trüben.

Als ich am Morgen den vergangenen Abend Revue passieren ließ, war ich so erschrocken, daß ich zunächst alles als bösen Traum abtun wollte. Es konnte und durfte nicht sein, daß ein Mensch aus diesem verteufelten Leichenfaß getrunken hatte. Aber zurück im Weinkeller mußte ich konstatieren, daß bei eben diesem Faß ein leeres Glas stand, das bei näherer Examination immer noch einen dermaßen verlockenden Duft verströmte, daß sich kein Freund des Rebensaftes seiner Faszination entziehen konnte.

Ich zwang mich, jeden Denkimpuls zu unterdrücken und füllte mir wie in Trance eine Probe ab. Schon als sich meine Nase dem Glas näherte, wußte ich, daß ich nicht geträumt hatte, und als der erste Schluck über meine Zunge rollte, stellte sich augenblicklich dieses unbeschreibliche Glücksgefühl entspannter Gelassenheit ein, daß gestern wie ein Wunder über mich gekommen war.

Apropos Wunder. Es muß eines gewesen sein, denn wie will die Chemie mit Unterstützung der übrigen Naturwissenschaften eine solche Wirkung von Knochenresten auf Salatsauce erklären? Mir kann es egal sein, ich bestehe nicht auf universitärer Aufklärung. Mir ist die wunderbare Wirkung allemal genug.

Brauneberger Seelenfrieden, das war der passende Name für diesen Tropfen.

Scheiß auf alle Steuerprüfungen dieser Welt, auf die abgetauchte Betty, auf miese Gäste und noch miesere Weinlesen, Schädlingsplagen, Pilzbefall, Mißernten und Kostenexplosionen, scheiß sogar auf den Mord an Arnie. Egal, welche beängstigenden, beklemmenden, selbst Horror-Visionen in mir heraufdämmerten, es brauchte nur einen Schluck, um sie in die Bedeutungslosigkeit zu verbannen.

Ich habe ihn in der Zwischenzeit gelegentlich besonders guten Gästen des Hauses kredenzt, und alle waren begeistert. Ausnahmslos. So ausnahmslos, daß mir mein Faß zur Neige zu gehen droht. Und das, obwohl ich jüngst dazu übergegangen bin zu versuchen, die Nachfrage durch Erhebung eines exorbitanten und mir beinahe selber peinlichen Verkaufspreises zu regulieren. Aber nein, sie bestellen weiter, machen Reklame im Bekanntenkreis und bringen zur Einquartierung und Verkostung vor Ort ihre Freunde mit.

Droht mir dies allmählich über den Kopf zu wachsen, kann ich nicht verleugnen, daß die Entwicklung über den finanziellen Aspekt hinaus auch andere erfreuliche Facetten hat. So hat sich bei mir jetzt schon zum zweiten Mal ein holländisches Ehepaar eingemietet, Henk und Corry Mijer, dessen Anwesenheit ich nicht missen möchte. Beide verfügen über einen ausgezeichneten Geschmack, Henk in Bezug auf Weine, und Corry was Männer anbelangt. Deshalb verliebte sich gleich bei ihrem ersten Besuch Henk in meine Aus- und Spätlesen und Corry in mich. Zwischen ihr und mir ist nichts vorgefallen, alles rein platonisch - bis jetzt.

Corry erinnert mich im übrigen stark an die junge Betty, mit der ich ... na, Sie wissen schon. Henk scheint mir ein rundum verträglicher Mensch zu sein, der allerdings immer dann ganz schön aus der Haut fahren kann, wenn er sich einbildet, einen Grund zur Eifersucht zu haben.

Irgendwie kommt mir diese Konstellation bekannt vor.

Nicht, daß sie mir unangenehm wäre. Sie könnte vielleicht auf lange Sicht sogar mein Problem mit dem irgendwann einmal aufgebrauchten Brauneberger Seelenfrieden lösen. Womit letztlich alles auf die eine Frage hinausliefe, die ich nur würde durch die Tat beantworten können: haben Holländer eigentlich ein anderes Aroma als Amerikaner?

Copyright by Friedrich Gerhard Klimmek (2003)