Leseprobe: Holmes ließ schweigend seinen Blick von den Verletzungen
zum Gesicht unserer Besucherin wandern. Miss Stoner
errötete tief und bedeckte schnell die verräterische Stelle.
”Dr. Roylott ist ein harter Mann, der seine eigenen Kräfte
nicht kennt.”
”Nun denn, Madam, sind Sie sicher, daß Sie uns jetzt alles
erzählt haben?”
Unser Gast wand sich sichtlich, bevor er zu den folgenden
Worten ansetzte: ”Es ist ... möglicherweise ist es nichts von
Belang ... vielleicht nur eine überspannte Phantasie von mir,
aber ...”
Holmes machte ungeduldig eine Geste, die sie ermuntern
sollte, auf den Punkt zu kommen.
”Gut. Wenn es Ihnen auch töricht erscheinen mag, aber
ich habe bereits damals nach dem Tod meiner Schwester
meine eigenen Ãœberlegungen angestellt, und auch mir ist in
den Sinn gekommen, daß Gift im Spiel gewesen sein könnte.
Ohne Dr. Roylott belasten zu wollen ... nun, was soll ich sagen
... er hielt sein Zimmer beständig verschlossen, obwohl er
vor seinen Tieren doch keine Angst zu haben brauchte. Kurz
und gut, ich wollte meinen ganzen Mut zusammennehmen
und in seiner Abwesenheit sein Zimmer durchsuchen, und
sei es nur, um endgültig ausscheiden zu können, daß er mit
der Sache etwas zu tun hatte. Als er also wieder einmal mit
den Zigeunern ein paar Tage herumzog, probierte ich sämtliche
Schlüssel, die sich im Hause auftreiben ließen. Einer,
der zu der Tür eines im Nebenflügel gelegenen Abstellraums
gehörte, öffnete mir das Zimmer meines Stiefvaters. Es war
nur kärglich eingerichtet, so daß mir einige Dinge besonders
auffielen, die im Zimmer eines zurückgezogen lebenden Landedelmannes
nicht unbedingt zu erwarten sind. Als erstes fiel
mir ein großer Tresor ins Auge, dessen Verwendungszweck
ich mir angesichts der Tatsache, daß mein Stiefvater über
keine nennenswerten Pretiosen verfügt, nicht erklären konnte.
Darauf stand ein Schälchen mit Milch, zu winzig, um für
den Geparden oder den Pavian bestimmt zu sein. Und über
einer Sessellehne hing eine geflochtene Hundepeitsche, deren
Ende so merkwürdige geknüpft war, daß es eine zusammenziehbare
Schlinge bildete. Ich habe an das Pfeifen gedacht
und den metallenen Laut, der vom Zuschlagen der
Safetür herrühren könnte. - Hier meine Überlegung, Mr.
Holmes, auch wenn sie Ihnen lächerlich erscheinen mag: ist
es denkbar, daß mein Stiefvater ein giftiges Tier hält, das er
abrichtet, vielleicht ein Reptil, um es ...”
Holmes schnellte in seinem Sessel so abrupt nach vorn,
daß unsere Besucherin ihren Satz nicht vollendete. Auf seinem
Gesicht lag ein Ausdruck höchster Anspannung, der jedoch
nach einigen Momenten des Nachdenkens wieder verschwand.
”Nein, Miss Stoner, das ist ausgeschlossen.”
”Aber diese Formulierung, das gefleckte Band ... könnte da
nicht eine Schlange ...”
”Ich sagte bereits, daß es ganz unmöglich ist. Müßig, nur
einen Gedanken in diese Richtung zu verschwenden. - Nun,
wenn dies alle Umstände sind, die es zu beachten gilt, so will
ich mich gleich an die Arbeit machen, um Licht in diese Angelegenheit
zu bringen. Dazu halte ich es für unerläßlich, die
Räumlichkeiten auf Stoke Moran selber in Augenschein zu
nehmen. Wenn wir noch heute dahin kämen, wäre es möglich,
die Räume zu sehen, ohne daß Ihr Stiefvater etwas davon
erfährt?”
Miss Stoner nickte eifrig. ”Das wird sicher gehen. Er hat
gesagt, daß er heute in die Stadt fahren wollte, um etwas
Wichtiges zu erledigen. Bestimmt bleibt er den ganzen Tag.
Sonst lebt im Haus nur noch eine alte Haushälterin, die, frei
gesprochen, ein wenig einfältig ist. Ich kann dafür sorgen,
daß sie solange aus dem Weg ist.”
”Ausgezeichnet. - Ich vermute, mein lieber Watson, Sie haben
gegen einen kleinen Ausflug nichts einzuwenden?”
”Aber nicht im geringsten.”
”Dann werden wir beide kommen. Was werden Sie selber
in der Zwischenzeit tun?”
”Ich habe vor, mit dem 12-Uhr-Zug zurückzufahren, wenn
ich hier in London noch ein oder zwei Dinge geregelt habe,
so daß ich bereits da bin, wenn Sie ankommen.”
”Einverstanden. Erwarten Sie uns dann also am frühen
Nachmittag. - Und nun, wollen Sie nicht noch mit uns frühstücken?”
Unser Gast erhob sich. ”Haben Sie vielen Dank für Ihre
Güte, aber ich möchte doch jetzt lieber gehen. Mein Herz ist
mir schon viel leichter, nachdem ich Ihnen meine Sorgen anvertraut
habe und sicher sein darf, daß sie jemand mit mir
teilt, der nicht nur gewillt, sondern auch in der Lage ist, mir
zu helfen. Nochmals meinen herzlichsten Dank, und ich
freue mich darauf, Sie heute Abend zu treffen. Lassen Sie
mich nicht im Stich, ich glaube, daß es dringlich ist.”
Damit ließ sie ihren dichten Schleier wieder über das Gesicht
fallen, und Mrs. Hudson begleitete sie aus dem Haus.
Als die Tür hinter ihr geschlossen war, ließ sich Holmes
aus seinem Sessel vernehmen: ”Nun, Watson, die Meinung
eines erfahrenen und sachkundigen Freundes?”
Beim gegenwärtigen Erkenntnisstand mußte ich mich
mehr von meinem Gefühl als meinem Wissen leiten lassen.
”Das scheint mir eine böse und dunkle Angelegenheit zu
sein.”
”Böse genug und dunkel genug.”
”Und doch, wenn unsere Lady recht hat, daß Boden und
Wände undurchdringlich sind und Tür, Fenster und Kamin
unpassierbar, hat ihre arme Schwester ein sehr rätselhaftes
Ende genommen.”
”Das allemal. Ich hoffe zwar, dieser Fall wird kein Rätsel
sein, das für uns zu groß sein kann, doch ich muß gestehen,
daß mir im Augenblick jeder Ansatzpunkt fehlt, dem Kern
der Sache nahezukommen.”
Mrs. Hudson war zwischenzeitlich in das Wohnzimmer zurückgekehrt
und hatte begonnen, das Frühstück aufzutragen.
Dabei hatte sie unser Gespräch mitanhören müssen. Nach
Holmes’ letzten Worten stellte sie ihr Tablett ab und wandte
sich unmittelbar an ihn: ”Mr. Holmes, ich habe mich nie eingemischt,
aber dies scheint mir viel eher eine Ihrer leichteren
Aufgaben zu sein. Sie sagten gerade selber, daß es um
Gift geht. Ich glaube, da wird eine Schlange dressiert, um zu
beißen, wenn es der Dompteur will. Zumindest will er sie
aber mit seinem Pfiff wieder zurücklocken.”
Mein Freund lächelte sein wissendes Lächeln, das ich so
oft bei ihm beobachten konnte. ”Ausgeschlossen, Mrs. Hudson,
Schlagen sind taub.”
Der gute Geist unserer Junggesellenbehausung wirkte äußerst
verblüfft. ”Aber Mr. Holmes, bei allem schuldigen Respekt,
es kann doch nicht sein, daß alle Schlangen taub sind.
Das weiß doch schließlich jedes Kind, daß es Schlangen gibt,
die sogar nach der Musik einer Flöte tanzen. So ist es doch
in Indien, nicht wahr, Dr. Watson. Da sollen die Schlangen
nach der Musik von Fakiren tanzen. Und ich habe es hier in
London schon selbst gesehen, auf einem Jahrmarkt, jawohl.
Sogar mit einem Frettchen hat die Schlange getanzt, immer
im Kreis umeinander herum.”
Ich war geneigt, mich auf Mrs. Hudsons Seite zu schlagen.
”Nun ja, Mrs. Hudson, auch ich habe in meiner Zeit als Militärarzt
in Indien Gaukler gesehen, nach deren Flöte ...”
Holmes sprang auf und machte eine wegwerfende Handbewegung.
”Es ehrt Sie, Watson, daß Sie einige Gedächtnisschubladen
von Ihrem früheren Ausbildungswissen geleert
haben, um Sie mit Erkenntnissen zu füllen, die der Gesundheit
und dem Heil Ihrer Patienten dienlich sind. Bei genügender
Anstrengung Ihrer Erinnerung sollte Ihnen jedoch
wieder einfallen, was man Ihnen im Rahmen Ihrer Biologieunterweisung
beigebracht hat. Schlangen sind ohne Ausnahme
stocktaub. Dies ist eine naturwissenschaftliche Tatsache,
an der nicht gerüttelt werden kann, und damit Schluß! Diese
Gaukler könnten ihre Flöten ruhig mit einem Besenstiel
vertauschen, ohne daß sich am Verhalten der Schlangen etwas
ändern würde. Also steht hundertprozentig fest, daß sich
die Dressurbemühungen, von denen unsere Klientin sprach,
unmöglich auf eine Schlange beziehen können. Auch würde
eine Schlange keine Milch trinken, allenfalls in höchster
Not, weil seit Wochen kein Wasser zur Verfügung stand. Und
mit der Schlinge am Ende einer Hundepeitsche eingefangen
werden? Ein weiterer grandioser Unsinn! Schlangen verändern
mühelos den Durchmesser ihres Körpers, manchmal sogar
ihres Kopfes. Unmöglich, sie mit solch einer Konstruktion
einfangen und festhalten zu können. Nein, aufgrund der
uns bekannten Fakten auf die Existenz einer Schlange schließen
zu wollen wäre so logisch wie die Schlußfolgerung eines
Mannes, der bemerkt, daß Schnee in dicken Flocken fällt,
und deshalb konstatiert, es müsse Hochsommer sein. - Und
doch, irgendwie halte ich es nicht für abwegig zu glauben,
daß wir in unserem Fall tatsächlich noch auf eine Schlange
stoßen werden.”
|